Gedanken auf einer Reise nach Berlin, 23. bis 24. Juni 2012
(von Winfried Benkel)
„Aber wenn Sie rückwärtsfahren sehen Sie mehr!“, sagte der Fahrkartenkontrolleur ganz freundlich der Dame, die wissen wollte, ob sie von ihrem reservierten Platz auf den gegenüber in Fahrtrichtung freien Platz wechseln darf. Das ist ja interessant, dachte ich und testete gleich mal mein Sehvermögen.
Und wie ich so schaute, kam ich kurz ins Grübeln, was meine Augen wohl in den letzten Jahrzehnten haben alles lernen müssen, um die immer schneller vorbeirauschenden Dinge möglichst noch mit Vergnügen zu betrachten. Offensichtlich werden dabei im Gehirn unzählige Bilder kompensiert und manch verschwommenes durch ein rekonstruiertes aus meinem Kopf ersetzt.
Ich fahre gern mit der Eisenbahn. Hier kann ich wunderbar abschalten, vorausgesetzt, es gibt um mich herum keine Ruhestörer. Hier kann ich gemächlich lesen und gleichzeitig mit wechselnden Blicken die vorbeiziehende Landschaft genießen.
In diesem Dasein eröffnet sich mir eine ganz andere Wahrnehmung von Zeit und Geschwindigkeit, die weder Hast noch Termine kennt, obwohl doch der Zug, in dem ich sitze, mit hoher Geschwindigkeit zu seinem vorgegebenen Ziel und Zeitpunkt eilt.
Ich freute mich auf den heutigen Abend. Obwohl mein Terminkalender schon vollgestopft war, entschloss ich mich kurzfristig doch nach Berlin zu fahren zur Buchpremiere „Haiku hier und heute“ in Kooperation mit dem Deutschen Taschenbuch Verlag.
Ich wusste, die Reise war weit und die Veranstaltung sicher nicht allzu lang, denn wer verträgt schon einen Abend voller Haiku …? Und so fragte ich mich nicht zuletzt aus zeitlichen und finanziellen Gründen: Lohnt sich das?
Doch meine Entscheidung war klar: Ich wollte dabei sein, wie dieses oder jenes Haiku der Anthologie heute in Berlin vorgetragen wird.
Eigentlich ist es ja nichts Besonderes und doch sah ich darin einen faszinierenden Prozess der Transformation: Da wurde irgendwo in der Welt ein kleiner Gedanke, ein Haiku geboren, das nun vielleicht Jahre später an einem ganz anderen Ort von fremden Menschen begeistert interpretiert wird. Wahrnehmung und Interpretation – war das nicht schon immer das Spannungsfeld, in dem wir uns entweder finden, reiben oder verlieren? Ich war gespannt auf die Menschen heute Abend, die sich mit ihren besonderen Talenten der Sprach-, Musik- und Zeichenkunst unseren Haiku stellen würden.
Und überhaupt: Welchen Weg sind die hier in der Anthologie versammelten Haiku wohl schon gegangen? Welche Geschichte verbirgt sich hinter jedem?
Ich glaube, es würde Bücher füllen, wenn man die Entstehungsgeschichte dieser Haiku etwas näher beleuchtete. Sicherlich werden bestimmt viele Haiku letztendlich am Schreibtisch geboren, doch immer aber aus dem Kopf heraus, in dem wir unsere Gedanken zur Geschichte werden lassen. Wäre es nicht mal interessant, über die Begleitumstände zu sprechen, unter denen ein Haiku das Licht der Welt erblickt? Was spielte sich alles im Kopf des Autors ab, bevor er die erlebte Szene oder aber nur sein Bild im Kopf in Worte kleidete? Und durch welche Köpfe sind seine Haiku gewandert, um schließlich anzukommen, wie zum Beispiel heute – zwei Tage nach der Sommersonnenwende – am 23. Juni 2012 in der Lettrétage?
Schon vor einigen Tagen musste ich daran denken, wie mein Stelzen-Haiku plötzlich entstand, welchen Weg es seit dem ging und mit welchen Auseinandersetzungen es sich konfrontiert sah. Ob es heute auch vorgetragen wird?
Auf langen Stelzen
eilt mein Schatten übers Feld –
Dezembersonne
Es gibt Augenblicke, die vergesse ich nicht. So auch der Mittwoch am 28. November 2001.
Wieder lief ich über die Freisinger Felder und plötzlich gegen 9.00 Uhr sah ich auf der linken Seite meinen Schatten in Riesenschritten übers Feld eilen …
Ich wusste auch nicht warum, aber es war für mich ein besonderer Augenblick, wie die aufgehende Novembersonne meine Gedanken im Laufen beflügelte und zugleich mich sehen ließ, wie mein langgezogenes Ich schließlich auf dem geernteten Feld verschwand.
In diesem Augenblick des Laufens brauchte ich nur noch aussprechen, was ich sah und fühlte, und ich spürte sofort, dass mir der gerade ohne jegliche Anstrengung gedachte Satz gefiel, weil einfach alles stimmte.
Nun gab es nur noch ein Problem: Wie rette ich meinen Satz bis nach Hause? Noch waren es einige Kilometer, und die Gefahr für Jogger ist groß, durch neue Inspirationen gerade geborene Gedanken zu verdrängen.
In meiner Tagebuchnotiz vom 28.11.2001 las ich:
„Die größte Last, die ich beim Joggen nach Hause zu tragen habe, sind neuerdings meine eben geborenen Haiku.“ Nun, ich schaffte es schließlich, indem ich mein Haiku immer wieder sprechend in Erinnerung hielt. Schon auf dem Feld war mir klar, dass mein Gedanke der 5-7-5-Silbenstruktur entsprach, die ich einige Wochen vorher flüchtig als sogenanntes „Haiku“ entdeckte. Und wie ich noch mit nassen Klamotten den Satz auf eine Karteikarte schrieb, wurde mir bewusst, dass ich den Dreizeiler noch steigern könnte, wenn ich die Novembersonne um drei Tage verschiebe und als Dezembersonne scheinen ließ, was ich sofort machte, auch wenn mir bei diesem Eingriff nicht ganz wohl war.
Ja, an diese Feldszene erinnere ich mich noch heute sehr genau. Auch weiß ich in etwa die Stelle noch.
Nun, elf Jahre später, frage ich mich, was alles kumulierte eigentlich in dem Gedanken auf dem Feld? Hängt die Wahrnehmung und die Formulierung der Gedanken nicht auch wesentlich davon ab, was in all den Wochen zuvor in meinem Umfeld passierte?
Und so begab ich mich äußerst gespannt auf Spurensuche und hatte Glück. Ich konnte auf umfangreiche Aufzeichnungen u.a. in einem wunderbaren „Ikebana-Bonsai-Kalender 2001“ (erste Ausgabe 1950) zurückgreifen, den mir Chie zum Abschluss meiner Japanreise im Jahr 2000 im Haus ihrer Eltern (Präfektur Fukushima) schenkte.
Mich interessierten besonders die Eintragungen von September 2001 bis November 2001 und ich war überrascht, was ich in dieser intensiven Lebensphase von nur drei Monaten alles entdeckte.
Wie war es möglich, dass ich vieles davon schon vergessen habe?
Unser Gehirn arbeitet genial. Ich staune, wie es meine damaligen verschiedenen Gedanken-Schwerpunkte zum passenden Augenblick „verdichtete“ und in einem einzigen Satz auf dem Feld zum Ausbruch kommen ließ. Schließlich rannte ich ja nicht übers Feld, um ein Stelzen-Haiku zu dichten…
Und ebenso staunte ich, wie mein Gehirn viele belastende Details und Erlebnisse über die Jahre hin ausblendete und mich vorläufig vergessen ließ.
Auch wurde mir in diesem Zusammenhang bewusst, in welchen Konflikt wir mit immer leistungsfähigeren Speichertechnologien und Archivierungsmöglichkeiten geraten könnten ohne eine entsprechende Entsorgung der Informationen. Mir scheint, dass es da für die Zukunft eine ganz besondere Herausforderung gibt: Die Kunst des Vergessens! Und das sage ich heute, im Jahr 2012 (Das Internet lässt grüßen …!).
Aus meinen Kalenderaufzeichnungen von September 2001 bis November 2001 erstellte ich einige Schlagzeilen und Schlagwörter, um – so ähnlich wie mit einer Wortwolke – herauszufinden, ob sich aus deren Inhalt vielleicht ein Sinnzusammenhang zum Stelzen-Haiku ableiten lässt.
Diese grafische Anordnung der Schlagzeilen und Schlagwörter ist nicht durch eine automatische Generierung entstanden, sondern, wie gesagt, manuell aus Kalenderaufzeichnungen. Sie sollte mir einen Einblick geben in meine damalige Erlebniswelt und in meine damalige emotionale Situation. Nun, nach der Aufbereitung meiner vorhandenen Informationen bin ich überzeugt, es gibt einen Zusammenhang:
Wortwolken, auch als tag clouds bezeichnet, sind eine Möglichkeit, Informationen visualisiert darzustellen. In der Informationswissenschaft gibt es viele weitere analytische Verfahren, mit denen man versucht, den Weg und den Wert von Informationen (z.B. von Autorentexten) zu messen. Ziel dieser Verfahren ist auch, neben den quantitativen Ergebnissen Rückschlüsse auf den Wirkungsgrad und die Qualität z.B. von Textinhalten oder Autoren zu ziehen. In diesem Zusammenhang seien z.B. folgende Fachgebiete / Verfahren genannt, die sich teilweise überschneiden und andererseits in zunehmend neuen Anwendungsbereichen zur Spezialisierung führen: Informetrie, Bibliometrie, Scientometrie, Webometrie, Cybermetrie usw.
Ich glaube, dass es in einigen Jahren Verfahren geben wird, mit denen völlig neues Wissen aus großen Datenmengen ermittelt werden kann. Diese Verfahren werden noch tiefer die Qualität von Inhalten analysieren und weit darüber hinaus gehen, was derzeitige Software z.B. im Nachweis von Plagiatsverdächtigungen oder Ranking-Software leistet. Auch große Haiku-Datenbanken sind eine tolle Fundgrube für Analysen …
Doch zurück zu den Wolken, die in den Sprachgebrauch der Technik – heute im Jahr 2012 – schon längst eingezogen sind z.B. auch als Cloud-Computing. Ist es nicht erstaunlich, wie leicht und jederzeit wir im Internet auf unsere Informationen zugreifen können, ohne dass wir meistens wissen, wo sie gespeichert sind? Die Zeit drängt. Wer wollte da, solange es keine akuten Probleme gibt, schon Gedanken verschwenden über die Verantwortung der Wolkenwächter? Werden all unsere gespeicherten Haiku vielleicht demnächst gelöscht? Oder erscheinen sie womöglich in einigen Jahrzehnten in einem neuen Licht? Oder aber ziehen unsere Haiku aus in die weite Welt und werden zu Zugpferden für andere Artikel, deren Inhalt uns vielleicht fremd erscheint …? Überlassen wir sie den Wolken …!
Obwohl ich erst im Jahr 2003 mit großer Begeisterung die Webseite Haiku.de entdeckte und mich mit neuen Haiku zum ersten Mal an die Öffentlichkeit wagte, blieb meine Kreativität zum Dichten beschränkt. Auch fand ich keine Zeit, mich endlich mal mit der Haiku-Theorie zu befassen, obwohl um mich herum die japanische Kultur in vielen Fassetten mein Leben beeinflusste.
Doch plötzlich ändert sich das. Völlig überrascht teilte mir der Hamburger Haiku Verlag am 26.8.2004 mit, dass mein Stelzen-Haiku beim 2. Deutschen Internet Haiku-Wettbewerb „Haiku mit Köpfchen“ in der Kategorie „Klassische Haiku“ einen 2. Preis erreichte. Ich freute mich, dass mein Haiku auch anderen gefiel, u.a. auch Prof. Ekkehard May in der Jury.
Im Nachhinein wurde mir klar, dass ohne die Plattform Haiku.de, die in Verbindung stand mit dem großen Engagement von Erika Wübbena und Stefan Wolfschütz, mein Haiku wahrscheinlich nie aus dem Karteikasten herausgefunden hätte. Das war ein Durchbruch.
Langsam spürte ich, wie die „Siebzehn-Silben-Vorgabe“ meine Sympathie für andere lyrische Versmaße bedrängte. Entdeckte da ein Sportler eine neue Disziplin, die schon längst auf Wettbewerben etabliert war?
Nach einem ersten Telefongespräch mit Martin Berner und anschließend mit Georges Hartmann, der mich mit humorvollen Bemerkungen gleich überzeugte, dass meine Entscheidung gut war, wurde ich am 10.11.2004 Mitglied in der Deutschen Haiku-Gesellschaft.
Doch was war das? Am 8.01.2005 entdecke ich zufällig im Internet einen Beitrag über Plagiats-Verdächtigungen, in das mein Stelzen-Haiku geriet. Dieser Beitrag von Volker Friebel und Ingrid Kunschke als Dialog verfasst, entstand bereits am 30.10.2004, also elf Tage, nachdem mein Haiku im Internet als Preisträger veröffentlicht wurde. Wer war Volker Friebel, wer war Ingrid Kunschke?
Sehr erschrocken war ich geneigt, sofort mit Gegenbeweisen zu reagieren, denn man erwähnte in dem Dialog, dass das Stelzen-Haiku von Ingrid Kunschke mindestens seit Herbst 2002 beim Kusamakura Wettbewerb englisch veröffentlicht wurde und die erste deutsche Fassung seit etwa Herbst 2003 vor lag.
Doch als ich mich beruhigte und den so schön formulierten Text von Ingrid Kunschke mit der einfühlsamen Reflexion über mein Stelzen-Haiku ein zweites Mal las und sie jeglichen Plagiatsverdacht aus dem Weg räumte, freute ich mich letztendlich über ihre Worte und verschob erst mal meine Antwort zu diesem Gedankenaustausch.
Immer noch war es mir in dieser Zeit nicht gelungen, mich endlich tiefgründiger mit der Theorie und Geschichte des Haiku zu beschäftigen. Auch begegnete ich bisher noch keiner Menschenseele, von der ich wusste, dass sie Haiku dichtet. Mit diesen tollen Voraussetzungen der Unwissenheit und meiner Naivität stürzte ich mich nun endlich als Fremder unter das Volk der Haiku-Dichter, das sich zum 1. Europäischen Haiku-Kongress im Mai 2005 in Bad Nauheim zusammenfand.
Oh, was war das für ein großartiges Erlebnis!
Sowohl das Programm wie auch die Begegnung mit den sehr aufgeschlossenen Kongressteilnehmern begeisterten mich. Zu meiner Überraschung trug schließlich Klaus-Dieter Wirth auch mein Stelzen-Haiku in Deutsch und Englisch vor.
Auch erinnere ich mich noch sehr gut an die Reaktion meines mir unbekannten Sitznachbarn, Dietmar Tauchner, als ich ihm frisch und frei erzählte, dass das eben gehörte Haiku erst mein viertes war, was ich jemals aufs Papier brachte …
Zu meiner Freude übersetzte eine japanische Haiku-Dichterin noch während des Kongresses das Stelzen-Haiku ins Japanische. Einige Zeit später sendete ich diese japanische Fassung an eine japanische Freundin in Tokio, die es, ohne die Urfassung zu kennen, mit einer Haiku-Dichterin ins Deutsche zurückübersetzte. So hatte ich meinen Spaß und lerne auf diese Weise viel über die sprachliche Transformation eines Gedankens.
Und wieder lief ich Gefahr mit den Problemen des Alltags den Blick für die Haiku-Welt zu verlieren, wäre da nicht Claudia Brefeld, der es gelang, mich für Tan-Renga zu begeistern. Mehr noch: In dieser Einbindung des lyrischen Reagierens entstand bei mir zunehmend das Bedürfnis, verschiedene Alltagssituationen dichterisch zu verarbeiten. Plötzlich spürte ich, wie die Einhaltung der Silbenstruktur nicht zuletzt auch eine Frage des Zeitaufwandes war, doch allzu einfach wollte ich es mir eben auch nicht machen …
Sind es nicht oft die zu Disziplinierten – einmal auf Sinn und strenge Form eingeübt – die als Letzte den vorgegeben Weg verlassen?
Erst im Jahr 2009 rückte ich vom klassischen Haiku mit dem 5-7-5-Silbenschema ab und fand dafür bei haiku-heute.de eine anspruchsvolle Plattform, die von Volker Friebel betrieben wurde. Hier durfte man schon seit vielen Jahren ohne Zwang zu den Silben auch mal in gewissen Grenzen experimentieren, alles aber stets unter strenger Begutachtung des Haiku-Meisters, und das ist auch gut so. Jede Schule hat ihre Sichtweise! Und so eilten seitdem hin und wieder auch meine Haiku-Gedanken zu dieser Plattform, auf der Volker Friebel nun schon Jahr für Jahr, Monat für Monat pünktlich an jedem 15. das Ergebnis seiner Auswahl präsentierte. Und wen freut es da nicht, wenn eigene Gedanken es vielleicht wieder mal geschafft hatten, ausgewählt zu werden?
Ankunft in Berlin Kreuzberg!
Die sechs Stunden Fahrt mit der Eisenbahn vergingen wie im Flug. Den ganzen Nachmittag hatte ich nun noch Zeit für einen Spaziergang durch Kreuzberg. Langsamen Schrittes bewegte ich mich durch den Viktoriapark und auf den belebten Straßen, vorbei auch am einstigen Wohnhaus von Gottfried Benn.
Ich war beeindruckt vom bunten Treiben an diesem Samstagnachmittag. So viele meist junge Menschen um mich herum, die gut gelaunt sich in verschiedenen Sprachen unterhielten.
Vergnügt schlenderte ich über die Straße, und wohin ich auch schaute, immer wieder entdeckten meine Augen interessante Details, als hätten sie dafür einen Zeitlupenblick eingeschaltet. Es war Balsam für meine Seele! Warum nahm ich mir sonst keine Zeit zum Schlendern?
Schlendern, Spazierengehen … sind das nicht die intensivsten Formen für die Entstehung neuer Gedanken an der frischen Luft? Wie sagte doch Friedrich Nietzsche: „So wenig als möglich sitzen, keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung.“
Ach wär‘ das schön: Eine Zukunft, in der die Architekten endlich wieder mehr Raum einplanen für die Spaziergänger, ein Raum, in dem wir unsere Gedanken auch in städtischen Regionen wieder mehr entfalten könnten und nicht angerissen über Bord werfen müssen.
Wir nehmen immer nur das wahr, was wir gelernt haben, meint Lucine Burckhardt, der Begründer der Promenadologie. Schon in frühen Jahren präsentierte er auch hier in Kreuzberg seine Ideen für eine Landschaftsplanung, und immer wieder fragte er nach der Perspektive, mit der wir den Raum wahrnehmen, in dem wir leben.
Haiku-Dichter – für die Erfassung des Augenblicks und des Raums besonders sensibel – dürften ihre Freude haben an den Gedanken seiner Spaziergangswissenschaft.
Im Schaufenster eines kleinen Buchladens hinter der Markthalle entdeckte ich plötzlich ein Buch, dessen Titel meine Gemütsverfassung wie ein Blitz traf. Eben noch im seltenen Genuss des Spazierengehens begegnete ich nun einem Titel, als hätte er auf mich gewartet: „Franz Hessel: Spazieren in Berlin“. Sofort kaufte ich das Buch und ließ mich in einem naheliegenden Restaurant nieder. Neben mir am Straßentisch sorgte ein Mann mit einem Schifferklavier für Berliner Stimmung.
Sehr gespannt las ich gleich mal das Geleitwort, von seinem Sohn Stéphane Hessel 2010 geschrieben. Es endet mit dem Satz über seinen Vater: „Aus der Erschütterung, die er nicht überlebte, trifft sein Lächeln mich tiefer als jeder Schrei“.
Ich war gerührt, wie der über 90-Jährige nach Jahrzehnten über seinen Vater schrieb.
Sogleich hatte ich wieder die Sternstunde vor Augen, die ich 2008 mit Stéphane Hessel in der Sorbonne erleben durfte, als er über die Beziehung seiner Familie zu Rilke sprach und wie der über 90-Jährige vollständig aus dem Gedächtnis zwei lange Rilke-Gedichte vortrug. War Rilke nicht auch einer der ersten, der in der deutschen Sprache das Haiku aus der Taufe hob?
Ich lag gut in der Zeit und brach nun langsam auf zum Literaturhaus in der Methfesselstraße.
Angekommen in der Lettrétage – „Das junge Literaturhaus in Berlin“ – spürte ich sofort die enorme Ausstrahlung dieser erhabenen Gründerzeitvilla, die mir unverstellt auch mit ihren Blessuren des Alters der ideale Ort zu sein schien für den heutigen Haiku-Abend. Aus einem kleinen Zettelkasten am Eingang nahm ich das Monatsprogramm – ein bis zur Größe einer Ansichtskarte gefaltetes DIN A4-Blatt.
Auf der ersten Seite noch mal in Schwarz-Weiß diese nun vor mir stehende schöne alte Villa flankiert von Bäumen und rankendem Gewächs.
Noch hatte ich das Blatt nicht vollständig entfaltet, da sprangen mir auch schon aus der Rubrik „Gedicht des Monats“ zwei sehr vertraute Haiku entgegen:
eine Wespe
ich öffne die Fenster weit
zwei Wespen
Jochen Hahn-Klimroth
vor meinem fenster
der tanz der männerbeine
auf dem baugerüst
Gabriele Schmid
Immer wieder muss ich schmunzeln, wenn mir diese Haiku unverhofft begegnen. Ich studierte den Programmzettel, der sehr übersichtlich und schlicht gestaltet war und zögerte, ins Haus zu gehen, denn bis zum Beginn hatte ich fast noch eine halbe Stunde Zeit.
Es war sehr ruhig hier an diesem warmen Sommerabend. Nur wenige Leute schlenderten an mir vorbei. Was war los, dachte ich mit der Zeit. Plötzlich entstand der Verdacht, dass ich hier doch hoffentlich nicht allein sein würde, da es die Massen heute sicherlich zu den Bildschirmen der Fußball-EM zog …?
Doch kurz vor Beginn näherte sich mir auf der bislang fast leeren Straße ein vertrautes Gesicht der Haiku-Welt: Gerd Börner! Ich war froh, wenigstens zu zweit zu sein.
Allsogleich begrüßten wir nun auch an der Tür die Herausgeber des Buches Udo Wenzel und Rainer Stolz und gingen nach kurzem Gedankenaustausch zügig treppab in den Salon.
Doch was war das? Der Raum, in dem vielleicht auch noch über die Leere zu sprechen sein würde, war voll! Woher kamen all die Leute, die hier fast familiär zusammensaßen? Die Stühle reichen nicht, es gibt Nachschub.
Viel mehr Zuhörer hätten hier eigentlich gar nicht Platz gefunden. Im Vorraum gab es einen Büchertisch. Auch die Versorgung fürs leibliche Wohl zum lyrischen Genuss war gesichert.
Ich hatte meinen Platz gefunden und empfand – mit einem Weinglas am Stuhlbein – eine angenehme Nähe auch zu den Interpreten, die uns gleich jeweils fünf Haiku aus den sechs „Tagesabschnitten der Anthologie“ vortragen würden. Diese Zuordnung der ausgewählten Haiku war sicherlich aufwendig gewesen, aber ansprechend, wie ich fand. Drückt doch ein Haiku oft auch einen Moment des Tages oder der Nacht aus mit unserem jeweiligen Gemütszustand. Wer will, kann also auch entsprechend seiner Tagesverfassung aus diesem handlichen Büchlein jene Energiequellen anzapfen, die für seine Stimmung relevant erscheinen.
Alles war gut präpariert. Schon eine Weile strahlte von der Wand das projizierte Deckblatt der Anthologie mit der kleinen Illustration in den lichtgedämpften Raum. Nachdem ich es einige Zeit auf mich wirken ließ wurde mir klar, dass ich die Zeichnung erst jetzt hier in Berlin in aller Ruhe vollständig erfasste und begriff. Genial! Ja, das ist wirklich großartig, wie die Illustratorin Martina Wember, die bescheiden unter uns in einer Ecke saß, mit minimalem Zeichenaufwand den Sinn des Haiku erfasste und ins Bild setzte. Was war in ihrem Kopf vorgegangen, bis diese ausdrucksstarke Zeichnung entstand, die abstrakt eigentlich nur aus einem stufenförmig rankenden Strich und drei fast kreisförmigen Gebilden bestand und doch so viel Raum bot für Gedankenspiele und Deutungen …?
Nach einleitenden Worten von Rainer Stolz zur Entstehung der Anthologie und der Vorstellung aller Mitwirkenden ging es los.
Die Sprecher Denis Abrahams und Andrea Schöning trugen abwechselnd fünf Haiku von jedem Abschnitt vor, worauf dann die Musiker Astrid Weins mit dem Kontrabass gemeinsam mit Thomas M. Kumlehn überwiegend mit der Flöte improvisiert reagierten.
Das war nun meine Zeit, in der ich von den Tönen erfasst, tief in mich versank und die gerade gehörten Haiku verinnerlichte.
Musik ist mächtig! Sie gab den Haiku den gedehnten Raum und ließ mich diese nun auf einer anderen Ebene nuancenreich empfinden.
Eigentlich könnte man schon mit dem Stoff weniger Haiku und mit einigen Musikgruppen einen interessanten langen Abend gestalten, wenn man einen musikalischen Wettbewerb um die beste Interpretation arrangierte. Man schreibt z.B. fünf Haiku aus und lässt diese dann auf einem Haiku-Festival von Musikgruppen und Solisten interpretieren.
Auf die gleiche Weise könnte man auch für Zeichner, Maler, Fotografen, Designer, Filmemacher, … einen Wettbewerb ausschreiben und hätte somit für ein Haiku-Festival ganz neue Dimensionen.
Nun waren wieder die Sprecher an der Reihe, die ihr Bestes gaben. Besonders gefiel mir bei geeigneten Haiku der Effekt, wenn Zeile für Zeile wie ein Echo vom anderen Sprecher wiederholt wurde. Eigentlich ist es eine enorme Herausforderung mit wenigen Wörtern das Bild eines Haiku wirksam auf eine emotionale Ebene zu bringen. Da kann schnell mal etwas schief laufen. Im Gegensatz zu uns Schreibern haben die Sprecher andere Instrumente, wie zum Beispiel die Gestaltung durch Sprechtempo und Klanghöhe, mit denen sie die Wirkung eines Haiku entscheidend beeinflussen können, was ihnen aus meiner Empfindung heraus auch weitgehend gelang. Noch schwieriger, als es für uns Schreiber schon ist, wird es für sie allerdings, wenn es um die Unterscheidung von Groß- und Kleinschreibung, Zeilenanfang, Komma, Punkt, Gedankenstrich geht.
Ich glaube, einmal hörte ich ein Ausrufezeichen, obwohl im Text keins stand …
Der Humor einiger Haiku kam sehr schnell zum Tragen, was man an der Reaktion der Zuhörer spürte. Doch es gab nicht wenige Haiku, deren Tiefsinnigkeit etwas mehr Zeit zum Verstehen verlangte. Vielleicht wäre es deshalb günstig, nach dem gesprochenen Haiku in aller Ruhe den Haiku-Text auf einer Wand eine Weile einzublenden mit oder ohne Musik.
Für mich ist es erstaunlich, wie ich auch meine eigene Stimmlage und mein Sprechtempo hinsichtlich mir bekannter Haiku verinnerlichte. Das spürte ich besonders, als plötzlich zu meiner Freude auch mein Stelzen-Haiku vorgetragen wurde. Zu Beginn überraschte mich die tiefe Stimmlage, die schließlich in der dritten Zeile in einer höheren endete. Alles in allem, es gefiel mir.
Nach einer kleinen Pause gab uns Udo Wenzel noch einen guten Überblick der geschichtlichen Entwicklung des Haiku, die insbesondere mit dem Dichter Matsuo Bashō große Bedeutung erfuhr. Auch gegenwärtige Tendenzen der Gedichtform wurden angedeutet.
Der zweite Teil des Abends stand auch für Fragen und Diskussionen zur Verfügung. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, der ich das literarische Geschehen nicht verfolgte, dass man einerseits von einem „Literaturbetrieb“ und andererseits von einer „Haiku-Szene“ sprach. Es schien, als handelte es sich dabei um zwei Bereiche mit unterschiedlicher Vernetzung im Vertrieb des Geschriebenen. Doch das kann ich nicht beurteilen. Aber offensichtlich fanden diese unterschiedlichen Netzwerke in der vorliegenden Anthologie kurz zusammen.
Ja, und was wäre ein Haiku-Abend, wenn es da nicht auch unterschiedliche Auffassungen gäbe über die Silbenstruktur und den Inhalt dieses kleinsten lyrischen Gebildes? Was ist ein Haiku?
Vielleicht ging es bei dieser Fragestellung manchem Haiku-Dichter so wie mir, wenn ich in meiner Hilflosigkeit dann sinngemäß zu den Worten von Augustinus griff:
Was also ist ein Haiku? Wenn mich niemand fragt, weiß ich es, soll ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.
Manchmal reflektierte ich bei der Sinnfindung des Haiku auch mal mit anderen japanischen Stilrichtungen wie zum Beispiel der Kampfsportart Judo. Judo wird als „sanfter Weg“ übersetzt. Ein wichtiges Prinzip des großen Judo-Lehrers Jigorō Kanō war für diese Disziplin das shin-shin-jizai, die geistige und körperliche Geschmeidigkeit!
Würfe sollten getanzt werden im Kraftfeld um die Mitte, d.h. auch, nicht gegen sondern mit der Energie sollen wir arbeiten. Dem Werfenden darf man die Kraftanstrengung nicht ansehen …. Entsteht all das Schöne nicht aus einer harmonischen Bewegung heraus und so auch die guten Gedanken …?
Der Haiku-Abend ging zu Ende. Den Veranstaltern wurde gedankt. Zur Freude aller bekamen wir noch eine musikalische Zugabe mit kürzestem Kommentar:
Thomas M. Kumlehn: „Wir spielen jetzt für die Herausgeber!“
Astrid Weins: „fünf-sieben-fünf?“
Nach meiner ersten Kreuzberger Nacht, die zwar kurz, dafür aber ganz amüsant und zum ersten Mal in einer Kneipe mit einer Fußball-Übertragung endete, war dann am nächsten Tag der Rückweg angesagt.
Wieder saß ich in der Eisenbahn und ließ mit Vergnügen den Vortag Revue passieren, wobei mein Blick nach draußen in die vorbeirauschende Landschaft gerichtet war. Es schien, als würde ich immer noch in einem festen Augenblick des Gestern stecken.
Eigentlich konnte ich jetzt dem nur zustimmen, was ich letzte Woche in München mit Konstantin Weckers Buchpremiere und seinem Titel erfuhr: „Jeder Augenblick ist ewig“.
Plötzlich aber wurde ich durch eine Lautsprecheransage aus meinen Gedanken gerissen:
„Bedingt durch eine technische Störung ändert unser Zug erneut die Richtung und fährt in wenigen Minuten weiter in Richtung Jena.“
Das konnte doch nicht wahr sein. Noch nie erlebte ich, dass ein Zug, mit dem ich nach Hause fahren will, wieder zurückfährt und zweimal die Richtung änderte. Ich schaue auf die Uhr – es war 13.25 Uhr. Ich begann zu lachen.
Auf der Hinfahrt philosophierte ich über den Perspektivwechsel … „wenn man rückwärtsfährt, sieht man mehr“, sagte doch der Fahrkartenkontrolleur. Und nun bekam ich diesen Service, ohne dabei meinen Kopf verbiegen zu müssen. Das war wirklich lustig, abgesehen davon, dass ich wahrscheinlich mit viel Verspätung irgendwann zu Hause landen würde.
Doch wie ich nun „aufgewacht“ nach draußen schaute, entdeckte ich plötzlich eine mir vertraute Landschaft. Waren das nicht die Wege an der Unstrut, auf denen ich vor einer Woche rannte? Na klar, das genau dort hinten war die Strecke des ersten Himmelswegelaufs von Naumburg bis zur Arche Nebra!
Wenige Minuten vor meinem Start in Naumburg klärte ich letztes Wochenende auf dem Marktplatz noch schnell den Kauf einiger Himmelsscheiben, die ich als Erinnerung an meinen Lauf und vielleicht auch als Anreiz für eine Reise in diese malerische und archäologisch interessante Gegend verschenken will.
Eigentlich wäre die Arche Nebra auch ein interessanter Ort für eine Haiku-Veranstaltung. Den Weg dorthin ab Naumburg kann ich nur empfehlen, vielleicht sogar in Verbindung mit einer Übung zum langsamen Denken …
Unsere Zeit ist schnelllebig. Nicht zuletzt spürte ich das auch daran, wie schnell die Medien den Jahrhundert- oder gar Jahrtausendfund der Himmelsscheibe von Nebra aus ihrem Blickwinkel verloren.
Alle Rechte bei Winfried Benkel, Augsburg.